Lisbeth nackt

Leipzig 1890
– erstmals gelesen im Oktober 2012
(an drei Abenden; möglich ist auch eine gekürzte Fassung an einen oder zwei Abenden).

Lisbeth nackt – Berichte darüber von mir, ihrem Geliebten, Oskar Rösiger, begonnen Leipzig, Freitag, den 1. August 1890Oskar Rösiger

– so lautet der Titel dieses einzigartigen Tagebuchs, äußerlich unscheinbar, in grauem Einband. Bis jetzt ist es in Schriftform unveröffentlicht; nur als Lesung und als halbprivat produziertes Hörbuch habe ich es in Auszügen präsentiert. 118 handschriftliche Seiten, niedergeschrieben in 14 Tagen.

Die Grundgeschichte ist schnell erzählt: Ein Student der Geisteswissenschaft in Leipzig, Oskar Rösiger, 26 Jahre alt, schreibt an seiner Dissertation und lebt bei einer Zimmerwirtin. Mit deren Tochter Lisbeth hat er eine Liebesbeziehung. Sie küssen sich, er darf auch ihre Brüste sehen und küssen – aber vollkommen nackt möchte sie sich ihm nicht zeigen.

Lisbeth Brust_kl

Also bohrt Oskar ein kleines Loch in die Türen zwischen seinem und ihrem Zimmer, in dem sie sich fast täglich wäscht, und beobachtet sie beim Waschen. Es bleibt unklar, ob Lisbeth dies bemerkt – einmal schreibt Oskar von der Angst, dabei von ihr entdeckt zu werden, ein andermal schreibt er, dass sie natürlich wisse, dass er hindurchschaue – in diesem Fall wäre es also eine Art Spiel zwischen den beiden.

Es ist das erste Mal, dass Oskar eine Frau völlig nackt sieht, und diese Eindrücke schreibt er in diesem Tagebuch nieder, er legt es sogar extra dafür an – parallel zu einem regulären Tagebuch, das leider nicht mehr vorhanden ist.

Beim heutigen Lesen ist es faszinierend, in der Sprache eines erwachsenen, belesenen Menschen Gedanken und Eindrücke zu erfahren, die beim ersten Anblick eines nackten Menschen des begehrten Geschlechts aufwallen. Oskar versucht seine neuen Erkenntnisse gleich in größere Bahnen zu lenken – macht sich Gedanken, wie Erinnerungen entstehen und wirken, welche Schönheitsideale in der Kunst herrschen und wie sie eigentlich zu sein hätten, damit die Schönheit Lisbeths wirklich erfasst ist; er möchte die Farbfotografie erfinden, damit solche Eindrücke von nackten Körpern dauerhaft erhalten werden – seiner Meinung nach resultieren alle großen Erfindungen aus solchen Leidenschaften.

Dass Sexualität und Nacktheit in Tagebüchern des 19. Jahrhunderts thematisiert werden, ist eine große Seltenheit. Fast immer werden solche Themen völlig ausgespart, selten ganz leicht angedeutet; aber dass ein ganzes Tagebuch nur diesem Thema gewidmet ist, hebt Lisbeth nackt in eine exponierte Stellung.

Lisbeth Zimmer_kl

Zeichnung von Lisbeths Zimmer

Auch Themen des Alltags werden im Tagebuch behandelt: Es wird Kauf und Installierung eines Bierfasses beschrieben; ein Spaziergang durch Leipzig mit Klatsch und Tratsch wird genau geschildert.

Oskar hat auch sonst einige Spuren hinterlassen, wenn auch wenige. In den Leipziger Adressbüchern ist er ab 1902 verzeichnet, übrigens bis 1904 immer noch bei derselben Wirtsfamilie wohnend. Bis 1931 ist er Korrektor, danach Privatgelehrter. Ab 1941 ist er nicht mehr im Adressbuch verzeichnet.

Lisbeth nackt Adressbuch Leipzig 1911, S. 692
Lisbeth nackt Adressbuch Leipzig 1911, S. 692

Auf einer genealogischen Website ist sein Geburtsdatum vermerkt: 23. September 1863 in Freyburg (Unstrut). Demnach war sein Bruder der Historiker Ferdinand Rösiger (1853–1916), der auch mehrmals im Tagebuch erwähnt wird.

Der bekannte Kunstwissenschaftler Hubertus von Amelunxen hat auf einem Flohmarkt den fotografischen Nachlass von Oskar Rösiger entdeckt, Fotos, die einige Jahre später entstanden. Motive: Hausfassaden und Frauenaktbilder; einmal auch ein Selbstakt. Er veröffentlichte Auszüge aus diesem Fund in der Fachzeitschrift Fotogeschichte Heft 41 (1991), S. 3-14: »Fassaden. Aus dem Nachlaß des Oskar Rösiger. Mit einer Vorbemerkung von Hubertus von Amelunxen«.

Auch in einem Zeitungsporträt über mich wurde Oskar Rösiger schon vorgestellt.

2013 schließlich hat die Künstlerin Martina della Valle die kleinen Skizzen aus dem Tagebuch zu Kunstdrucken verarbeitet; zu sehen waren sie u.a. im Atelier II II//I Hochstrasse 45 in Zusammenarbeit mit dem Freudenhaus Hase.

Lisbeth nackt – Martina della Valle

LISBETH_NACKT Martina della Valle_kl

 

Im Folgenden ein längerer Auszug (in Neuer Rechtschreibung):

Ich muss hier gestehen, dass man diese Pracht eines schönen Mädchenleibes eigentlich nicht schildern kann, man muss sie unmittelbar genießen. Auch muss ich die seltsame Tatsache konstatieren, dass dieses berückende, so ungemein helle, schöne, lebensvolle Bild, so großartig sein unmittelbarer, sinnlicher Eindruck ist, keinen lebhaften, tiefen Eindruck im Gedächtnis, richtiger auf die Vorstellungskraft macht. Wie eine Wundererscheinung, die plötzlich vor uns auftaucht und indem wir gaffend und staunend, sozusagen mit offenem Maul und offener Nase, es zu betrachten keine Zeit haben, uns seine Eigenart genauer anzusehen, was nötig ist, um es in der Vorstellung zu konservieren. Wenn wir z.B. etwas aus dem Kopfe zeichnen wollen, so gelingt das nicht eher, als wir über die charakteristischen Merkmale uns unterrichtet haben.
Obwohl ich Lisbeth lange genug vor dem Waschstuhl stehen und sich so waschen sah, lebt doch ein nun zu schwaches Nachbild davon in mir. Man gibt sich zunächst ganz der unendlich wonnigen, glänzenden, schimmernden Erscheinung hin, die von so unvergleichlich mildem, sanftem und doch auch starkem Glanze ist. Man will nur genießen zunächst. Alle Verstandestätigkeit, also auch das Gedächtnis, ruht. Nur die Gefühle sind rege. Man ist nur mit den Sinnen, mit dem Auge beschäftigt, man schaut nur, und zwar die herrliche Erscheinung. Man kann sich nicht satt dran sehen. An diesen Formen, dieser lieblichen Blüte, diesem Fluss und dieser Fülle und diesem wundersamen hellen, fast blendenden und milden Glanze. Der Totaleindruck wirkt zunächst, hält uns gefangenm und nur eine ganz allgemeine Nachwirkung bleibt. Und doch, vielleicht bin ich doch irre. Das Bild lebt doch ziemlich deutlich im Gedächtnis nach, es ist genug davon zurückgeblieben im Gedächtnis, aber da ich hier das Ganze oder ziemlich das Ganze vor mir habe, so ist das zuviel auf einmalm und das Gedächtnis kann das nicht gleich bewältigen und muss den Anblick mehrmals, wenn nicht viele Male vor Augen gehabt haben.
Dennoch will ich hersetzen, was ich an Einzelheiten noch weiß. Zunächst den langen gebogenen Rücken, aus dem das Rückgrat heraustrat wie ein Gurt. Nur diese herrliche, lange und schlanke und rundgebogen sich hinaufziehende glatte Rückenfläche, die durch das Rückgrat markiert wurde! Und immer und immer wieder drängt sich mir dieses herrliche Gesamtbild des nackten Körpers auf, das einen so ungeheuren Eindruck auf mich machte, und dieser unbeschreiblich lichte, milde und doch strahlende Glanz des Leibes und die weiche Glätte des Fleisches und der Haut. Oh, wenn man sie fotografisch farbig wiedergeben könnte, diesen Glanz, diesen Reflex, besonders bei den Arschbacken, die so hold, so weich, so voll sind. Groß und stark ist er aber keineswegs. Gar zu stark ladet das Becken nicht aus.

Lisbeth Knie_kl
Von den Beinen sah ich wohl den Anfang. Ich sah auch empor zum Spiegel und richtig, da erblickte ich sie darin, wie sie sich bückte. Da sah ich ein Stück Rücken, und wenn sie stand, auch die Brust, doch ganz deutlich nicht. Ich freute mich aber doch sehr, dass ich sie überhaupt im Spiegel sah. Ich dachte, ich könnte auf diese Weise ihren Geschlechtsteil sehen, aber mitnichten. Ich sah auch nicht lange zum Spiegel empor, sondern wieder hinab auf Lisbeth selbst. Auch da hoffte ich, einmal bei einer Wendung aus dem Profil zur ¾-Ansicht zur Scham hinabzusehen, aber es geschah nicht. Sie trat dann ab, um sich abzutrocknen. Aber was geschah nun? Das hätte ich nie und nimmer erwartet. Sie trat hinter den Stuhl, dem Fenster zu und auch mir zugekehrt, so dass ich gerade die Scham sah. Besser, günstiger konnte der Stand der Dinge gar nicht sein. Ja, das hätte ich mir nie träumen lassen. Es war ein fabelhaftes Glück. Besser konnte die Sache wirklich nicht liegen, hätte die Scham etwas tiefer oder höher gelegen im Gesichtsfeld, indem Lisbeth entweder mehr nach vorn oder mehr nach hinten sich begeben, hätte ich sie nicht gut gesehen. Sie lag gleichsam im Brennpunkt, wo die Strahlen am schärfsten sind.
Wieder stocke ich, wo ich daran gehen will, das Gesehene zu beschreiben. Dies ist in der Tat der denkbar mächtigste Anblick, den es gibt. Das eigentlich Charakteristische vermag ich nicht anzugeben. Nur das, was sofort in die Augen sprang und doch mehr etwas Nebensächliches ist, will ich zuerst erwähnen, dass nämlich die Scham behaart war, aber gar zu stark nicht, es war ein lustiger schwarzer Haarfleck. Den Spalt selbst bekam ich nicht recht zu sehen, obgleich ich gerade darauf sah und die Aussicht durch nichts verdeckt wurde und das hellste Licht darauf fiel.

Es scheint so, als ob beim weiblichen Geschlecht das Schamding sich immer mehr zurück zwischen die Beine ziehe, während beim männlichen Geschlecht die Geschlechtsteile immer mehr hervortreten, wachsen und an weichlicher, quietschlicher Baumeligkeit zunehmen.

Lisbeths Scham zieht sich ziemlich entschlossen, fest und zäh hinein zwischen die Beine. Es liegt ein ganz entschiedener fester Zug, Längszug darin. Dabei liegt aber doch eine Schwellung, Wölbung vor. Es ist aber wie gesagt kein dickes, volles, weiches Kissen und selbständiges Glied mit dicken, üppig schwellenden Lippen. Vielleicht, dass es bei Lisbeth nur so ist, weil sie eigentlich doch nicht sinnlich ist. Sie liebt wie ein Kind, ihr ist Hingabe, Glückseligkeit, aber ich habe noch nicht die Spur davon wahrgenommen, dass sie etwa Wollust empfände und gevögelt sein möchte. Da sollte sie dann doch vorhanden sein bei Frl. Mina (Wilhelmine Eder) in Nürnberg. Auch Frl. Martha Benchel hat sicher mehr Geschlechtslust, wenn sie allerdings wohl nicht dieser eigentlich zum Opfer gefallen ist als vielmehr ihrer Güte respektive Willensschwäche, der Unfähigkeit sich – geistig – zu beherrschen. Ihr kleiner Kopf reicht nicht aus, den großen Leib zu regieren. Soviel ich mich erinnere, lag ihr Geschlechtsteil nicht so tief drin. Das glaube ich sicher behaupten zu können, obgleich ich die Spalte nicht gesehen habe und sie sich auch bückte, aber dadurch gerade hätte die Scham sich noch tiefer senken müssen.
Hier nun sah ich zum ersten Mal die Scham eines erwachsenen Mädchens ganz deutlich. Der Anblick dieser Mädchenscham ist ein so eigenartiger, so stechend wirkender, dass es wirklich kaum etwas geben wird, das an Wirkung an dieselbe heranreicht. Mir scheint, die Sache liegt so:
Durch das tief Zurückweichen, scharf sich Zusammenziehen des Leibes zwischen den Beinen entsteht eine tiefe scharfe Kluft, und diese besteht aus Nichts denn aus Fleisch. Wie nirgends so hat man hier den Eindruck des Fleischigen, und dieser Eindruck ist ungeheuer, von einer seltsam furchtbaren Größe. Größe, Großartigkeit sind eigentlich falsche Bezeichnungen für das, was man sieht, sie passen aber für die Erschütterung, die sie beim Mann hervorrufen. Wohl findet ja beim Schoß die größte Ansammlung des Fleisches statt, Dickbeine und Bauch sind massig entwickelt, allein das sind mehr Umrahmungen, mehr äußere Umgebung, sie sind es eigentlich nicht, die da wirken, sondern der Geschlechtsteil, der da wirkt, auf den man Blicke heftet und beständig, andauernd gerichtet hält. Und wenn man auch den Geschlechtsteil, d.h. die Schamlippen nicht sieht, so sucht man sie doch.
Man sieht so in diese scharfe Kluft, in diese dreiseitige Spaltung, und durch dieses scharfe, tiefe Hineingehen erwacht in uns eigentlich das volle Bewusstsein des Fleischigen, Fleischlichen, des eigentümlichen Charakters, den das Fleisch besitzt, dieses weichen, nachgiebigen Stoffes, in das sich drücken lässt, in das man drücken kann, das sich in die Hände nehmen lässt. Besonders bei den Brüsten, die so weich, weichlich sind, deren Form sich verschieben lässt, offenbart sich der Charakter des Fleisches nach der einen Seite. Es wird einem hier selbst die Möglichkeit gewährt, die vollen, weichen Hügel in die Hand zu nehmen und zu drücken, zu schieben. Bei dem Schoß, der neben der Brust auch eine Hauptrolle und zugleich die größte zugedachte ist, offenbart sich der Charakter des Fleisches in einer anderen Seite hin. Bei der Brust wird durch das aktive Tastgefühl besonders der Charakter des Fleisches wahrgenommen, bei dem Schoß durch das passive Sehen. Die Wirkung ist noch viel kolossaler.
Wie da die Groß-Fleischmassen des Bauches und der beiden Dickbeine sich so tief und scharf nach hinten ziehen, hat man den Eindruck, als ob es wie bei einem Krater in das Feuer des Erdkörpers ginge. Es sind die Gegensätze von Berg und Tal. Auf den Berg muss man steigen, man genießt nicht nur einen freien Blick, man empfängt auch vor allem, indem man in die Schluchten unter sich, neben sich sieht, in die tiefen, klaffenden Thäler, den Eindruck des Wesens der Erde als eines Körpers, d.i. als einer schneidbaren, teilbaren, aufgrabbaren, aufreißbaren, einen Mittelpunkt, Kern besitzenden Masse. Dasselbe Schauspiel, derselbe Anblick, bietet sich auch bei weiblichem Schoß und der Schamkluft. Und obwohl hier in räumlicher Hinsicht ein viel kleinerer Maßstab obwaltet, so ist doch die Wirkung eine viel viel mächtigere, geradezu unheimliche, sinnberückende, die feste Besinnung, d.h. die Fassung raubende, eine brennende, prickelnde, Unruhe erregende. Die Weichheit, der goldig schimmernde Glanz der Haut, die Glätte und zugleich auch die Frische und feine, lebendige, lebensreiche Fleischform setzen dem Ganzen erst die Krone auf.

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