Das Kriegstagebuch eines Flötisten 1914-1918

Die 3 Tagebücher des Pankraz G. aus dem 1. Weltkrieg

Bisher gelesen: vier Teile (2. August, 5. September, 2. Oktober und  7. November 2014); der Schluss steht noch aus.

Der Augsburger Flötist Pankraz G., Sohn eines Fabrikwebers, meldet sich Ende 1914 als 22jähriger freiwillig zum Kriegsdienst nach Frankreich. Bis zum Kriegsende ist er Soldat, meist als Flötenspieler in einer Regimentskapelle im Königlich Bayerischen Reserve-Infanterie-Regiment 17, teils auch als Krankenträger, nur selten kämpfend an der Front.

Pankraz ist ein sensibler und melancholischer Büchernarr, kleingewachsen, mit Brille und schütterem Haar. Er wäre lieber als Mädchen geboren worden, beschäftigt sich mit Philosophie und hasst den Krieg – trotz seiner freiwilligen Meldung:

Am meisten aber leide ich unter den Schikanen roher und ungebildeter Vorgesetzter und Kameraden. Überhaupt kann ich mir gar keine Lebensweise denken, die meinem Wesen mehr entgegengesetzt wäre als das Militärleben. […] Ich fürchte mich nicht vor dem Tod; gestehen muss ich mir aber, dass mir das Sterben nicht mehr so süß vorkommt wie in früheren Zeiten. Es haben vielmehr die letzten schweren Monate eine Sehnsucht nach Lebensglück und Lebensgenuss in mir wachgerufen, die immer größer wird, je schlechter es mir geht. Möchte der Krieg doch bald zu Ende sein! Er lastet auf mir wie ein drückender Alp. ‒“

Er schreibt bis Kriegsende drei Tagebücher voll – ins. über 300 Seiten.

Da der Schreiber Flöte in einer Regimentskapelle spielt, geht es weniger um das Kampfgeschehen, sondern über Liebe und Frauen (er hat viele wechselnde Freundinnen), die Schönheit von Blumen, den Sinn des Lebens, die Kunst des richtigen Lebens, viel über Literatur und Musik. Auch etwas von seinen Kindheitserinnerungen schreibt er auf; alles wunderschön formuliert, während um ihn das Donnern der Kanonen an der Front seine tägliche Geräuschkulisse ist.

Neben den wunderschön formulierten Einträgen ist auch die äußere Gestalt der Tagebücher bemerkenswert: Pankraz G. schickt seine Tagebuchaufzeichnungen, da diese eigentlich verboten waren, heimlich als Briefe an seine gute Freundin Lotte, die diese in Bücher abschreibt. Später (wohl im Urlaub) schreibt Pankraz noch weitere Notizen hinzu und zensiert einige Einträge – teil durch Auskratzen, teils durch Überkleben mit Papier.

Kriegstagebuch, in der Handschrift von Pankraz G. und der seiner Freundin Lotte

Beide Handschriften auf einer Seite: Oben und unten Lottes, in der Mitte die von Pankraz G.,
zusätzlich noch überklebt und neu geschrieben.

Tagebucheintrag vom 8. April 1916, einmal unleserlich durch nachträgliche Zensur (Überklebung),
einmal lesbar, wenn gegen helles Licht gehalten

Diese überklebten Stellen sind gegen eine helle Lampe teils noch gut lesbar. So diese Seite, auf der sich folgender Eintrag versteckt:

Santes, 8. April 16: Wir Musiker haben uns fotografieren lassen. Ich bin gut getroffen. Ich sehe aus wie ein Mädchen, wie ein Vögelchen, drückte sich Dorfhuber aus, und Wagner nennt mich seine Frau; damit sagten sie mir aber nichts Neues. Das ist für mich ein altes Lied. In Berlin ist es mir passiert, dass sich Gäste eines Cafés, in dem ich spielte, bei meinem Kapellmeister (Rivelli) erkundigten, ob der Flötist eine verkleidete Dame sei? Ein andermal sprach mich eine Frau auf der Treppe mit ‚Fräulein‘ an. Wenn ich in meinen Kindheitserinnerungen herumkrame ‒ was ich sehr oft tue ‒ dann sehe ich mich mit meinen Schulkameraden im Diskurs über die Frage ‚Was ist schöner, Bub‘ sein oder Mädel?‘ ‒ ‚Bub‘ sein‘, höre ich mich eilig beteuern; höre aber auch heute noch das Raunen jener inneren Stimme, die da sprach: ‚Gelogen.'“

Kapellmeister Fedele Revelli auf einer AK von 1908

Die Kapelle von Fedele Rivelli in Berlin, in der auch Pankraz G. vor dem 1. Weltkrieg spielte (AK gelaufen 1908 – This file is licensed under the Creative CommonsAttribution-Share Alike 3.0 Germany license. Rights: Universität Osnabrück | Historische Bildpostkarten.)

Weiterhin verwendet er in seinem dritten Tagebuch teils eine Geheimschrift, die ich bisher noch nicht enträsteln konnte. Dass das f und das lange s in seiner Handschrift schwer zu unterscheiden ist, verkompliziert die Lösung. Die Wörter in Geheimschrift wechseln sich teilweise mit normalen Wörtern ab.

St. Souplet, 5. August 18: Uvo von esolso qumpuzuckdi pksefs kds. Ebt bmuf Mbsufs. Cfhkfsef nach Xfks. Fhpur nach Srprtraurwog zu einem Rlgcff. Verstand hyarorpy, so daß ich das sgunaqupvqur mein Ghaf nicht mehr fühle. Alles Gefühl ist sozusagen geflohen, es herrscht mit irezreegey Irsvzug Odvrequr. Mein Kvpr nore thg.“

Findet jemand die Lösung?

Einige weitere Auszüge:

16. Februar 16

Meine Gedanken waren bei meinen Büchern. Die moderne Literatur hat es mir angetan. Sie begeistert mich und macht mich dennoch „kühl bis ans Herz hinan“. Über den toten Punkt, auf dem ich mit meiner Philosophie seit Jahren angelangt bin, brachte mich bis heute kein Buch hinaus. Es gibt keinen Gott, es gibt keine unsterbliche Seele und keinen freien Willen. Alles, alles ist Zufall, ist zwecklos und ohne jede höhere Bestimmung. Davon bin ich fest überzeugt. Alles Streben und Mühen, alles Suchen der Menschen nach Wahrheit und Schönheit ist Selbstkultus und zielt letzten Endes nur darauf hin, jenes Gefühl der Unlust, den Schmerz aus dem menschlichen Leben zu vertreiben. Allein wird sich dies erreichen lassen? Ist nicht jener Wechsel zwischen Sonnenschein und Regen unabänderliches Naturgesetz? Philosophische Ratlosigkeit. Sehe ein, dass die Ideen, konsequent durchgeführt, Nihilismus bedeuten. Man würde verkommen, umkommen.

Santes, 8. August 16 (im Schreibsaal)

Als ich wieder ins Feld ging, fasste ich den festen Vorsatz, in Zukunft männlicher aufzutreten und keinerlei Demütigungen mehr zu ertragen. Alles unwürdige, weibische wollte ich von mir schütteln; ich wollte nichts mehr tun oder denken, dessen ich mich vor Marie hätte schämen müssen. Ist es aber nicht weibisch, ein Tagebuch zu führen? ‒

4. September 16

Es herbstelt bereits stark; nasskaltes Wetter, man könnte schon ein geheiztes Zimmer vertragen. Las zwei Novellen von dem russischen Dichter Dostojewski. Die furchtbaren Schicksale dieses Dichters, die Leiden und Demütigungen, die er ausgestanden, sind mir ein Trost und Ansporn, die seelischen und körperlichen Qualen, die dieser Krieg mir noch auferlegen wird, zu ertragen. Ich denke mir, auch ich wäre zu mehrjähriger Zwangsarbeit verurteilt und müsste meine Strafzeit hier in Flandern abdienen. Einmal muss doch Friede werden, einmal muss sich doch mein Kerker auftun! ‒

29. September 16

Heute Abend übte ich ein paar Töne auf dem Friedhof. Pflückte dort zwei Herbstzeitlosen und legte sie in mein Buch. Die Herbstzeitlose ist meine Lieblingsblume. Ihr einsames Blühen im Herbste, ihre schwermütige, fremdartige Schönheit ‒ das zarte Violett ihres Kelches deute ich als ein Symbol des Schmerzes. Dass sie giftig ist, vermag mich in meiner Liebe nicht irrezumachen. Was kann sie dafür?

30. Dezember 16

Meine Weltanschauung, meine Philosophie von der Nichtigkeit aller Dinge bewährt sich in allen meinen Lebenslagen. Nur fehlt es mir an Willens- und Charakterstärke, an Geist, um dieselben in den verschiedenen Lebenslagen anzuwenden. Vor allem rede ich viel unüberlegtes Zeug daher, was mir nur Schaden bringt. Wie gut stände mir eine gewisse bescheidene Zurückhaltung, Ruhe und gesetztes Wesen. Entspräche mein äußeres Verhalten nur einigermaßen meinem doch tiefen Wissen und auserwählten Geschmack, ich könnte eine Macht ausüben! Gibt es eine bessere Religion als die meine? Völliges Überzeugtsein von der Nichtigkeit und Zwecklosigkeit aller Dinge, aber aus freier Willensbestimmung Anerkennung einer schönen, edlen Menschlichkeit?

Sin-le-Noble, 9. Mai 17, abends

Ein Buch hat mir diesen Tag verpfuscht. Ging mittags nach Douai in die Buchhandlung und kaufte ‒ wie töricht ‒ einen Roman für 4 Mark von jenem verächtlichen Meyrink: Das grüne Gesicht. Ein ungesundes, giftiges Buch. Opium. Bis zur Hälfte gelesen, dann nur mehr durchflogen und eingepackt. Wie reut mich mein Geld! ‒

Waziers, 22. Juni 17

Ich lese gern von armen Menschen, die im Elend lebten, die bis in die Nacht hinein arbeiteten, auf Steinen schliefen und hartes Brot aßen. Solche Lektüre tröstet und macht genügsam. Darum lese ich auch mit Vorliebe russische Dichter. ‒
Seit meiner unglücklichen Liebe zu Leni Lindner fürchte ich mich vor der Liebe. Du lebst jahrelang leidlich ruhig dahin. Da kreuzt ein Weib von dem ernsten Typus, dem gegenüber ‒ und nur dem gegenüber ‒ du schwach bist, deinen Weg und stürzt dich in ein Meer von Schmerzen, in dem du vielleicht umkommst. ‒

10. Juli, abends

Ich vergleiche meine Fehler mit dem Unkraut, dem roten Mohn, den Kornblumen, den Disteln auf dem Felde. Der Bauer ereifert sich über sie; er geht vom Nützlichkeitsstandpunkt aus. Es besteht die Frage, ob sein Standpunkt der richtige ist? ‒

Beselare, 21. Juli 17

Diese Nacht unerbittliches Vernichtungsfeuer unserer Artillerie mit Gasgranaten. Englische Artillerie antwortet ebenfalls mit Gasgranaten. Vormittags dann Ruhe. Die vielen Toten, Verwundeten und Gaskranken wurden hereingebracht. Immer neue Transporte mit Gaskranken. Erschütternder Anblick, die armen Menschen mit dem Erstickungstode ringen zu sehen. Furchtbare Wirkung der neu angewandten Gase, das Tagesgespräch aller Soldaten. Verbrechen an der Menschheit. Teuflisch. Auch Konrad Nirschl diese Nacht durch Gas getötet. ‒

Lutterbach, 5. Oktober 17, morgens

Beim Erwachen dachte ich an Strindbergs wilde Mähne. Von Furien gepeitscht. Das von Schlangen umwundene Haupt aus der griechischen Sage. Habe ich doch auch ein paar solcher geistiger Ottern nicht ums Haupt, sondern in der Brust, und sie lassen mir keine Ruhe. ‒ ‒ ‒ ‒ ‒

Barenton-Bugny, 9. November 17, vormittags

Heute ist der sehnliche Wunsch, der frohe Tag der Befreiung, wo ich, wo alle wir armen unterdrückten, gemeinen Soldaten diese feldgrauen Lumpen wieder mit den Zivilkleidern vertauschen können, möchte bald kommen, die tiefe schwärende Wunde meines Herzens, an die ich nicht rühren darf. Und der Gedanke, dass fühllose, teuflische Bedrücker am Werke sind, durch ihre habsüchtigen Machenschaften diesen Tag immer wieder hinauszuschieben, ist Gift für mich. Wie habe ich auch den Militarismus, diese lastende Kette, womit man die Freiheit der Völker bindet, hassen gelernt! ‒

La Bouteille, 25. I. 18

Wer leidet am Weibe tiefer und schmerzlicher als ich, wessen Verehrung und Bewunderung ist aufrichtiger, wessen Leidenschaft und Liebe ist mächtiger, ernster, wer ist mehr Kavalier als ich? Und doch: Wer hat weniger Glück beim Weibe als ich? Wie gemein denken und reden andere über das Weib; und doch, wie werfen sich die Weiber ihnen an den Hals!

Toulis, 19. Februar 18

Bei schönem Wetter die größere Hälfte des Weges an die Front zurückgelegt. Während dem Marsche sogar mein Büchlein hervorgezogen und einiges gelesen. Mich hierdurch lächerlich gemacht. Major von Kuepach sagt: „Der liest auf dem Marsche; lassen Sie sich nicht stören!“ Mir könnte manchmal bei dieser Vielleserei bange werden; mag mir aber im Felde bei diesen Entbehrungen dieses Vergnügen nicht versagen. Bücher sind für mich ein Anregungsmittel, wie für den Orientalen Opium. ‒

21. Mai 18

Gestern Abend in der Korpsschlächterei gespielt. Auf dem Heimmarsch beim Aufspringen auf die Feldbahn gestrauchelt und beinahe verunglückt. Im Garten gespielt. Während letzter Piece, dem Dreimäderlhaus-Potpourri, plötzlich schwere Granateinschläge nahe der Schlächterei. Unruhe. Schrecken. So kann einen der Tod beim Musizieren ereilen! Die Flöte fliegt dahin und der Kopf dorthin! Weiter gespielt. Im Fortissimo hört man das Sausen der Granaten nicht so; also Fortissimo!

Das Zitat vom 21. Mai 1918 im Tagebuch des Pankraz G.

Das Zitat vom 21. Mai 1918 im Tagebuch des Pankraz G.